Donnerstag, 7. Juli 2011

Bahnbrechende Rede von Günter Grass

GÜNTER GRASS` REDE AM 1. JULI 2011 BEIM NETZWERK RECHERCHE







"Meine Damen und Herren,
oder soll ich Sie, da wir allesamt der schreibenden Zunft angehören und aus dem Tintenfass getauft wurden, kollegial um Aufmerksamkeit bitten? Schliesslich hat sich diese Versammlung auf den Schriftsteller und Philosophen Albert Camus berufen und mit dem Motto vom "glücklichen Menschen" jenen Sisyphos als Schutzpatron erwählt, der seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mein einziger Heiliger ist. Auf ihn, der die Götter lästert, konnte ich mich allzeit verlassen: Sankt Sisyphos.
   Camus hat ihn und seinen Mythos für uns aufs Neue gedeutet. Allein die Tatsache, dass sein so knapp gehaltener wie langfristig wirksamer Essay inmitten des Drangsal deutscher Besatzung geschrieben und im Jahre 1942 von der Librairie Gallimard in Paris verlegt wurde, also in Kriegszeiten, als Frankreich zwischen Widerstand und Kollaboration schwankte, unter die Leser kam, ist ein Beleg mehr dafür, was Camus bewogen haben mag, das Absurde des Weltgeschehens bildkräftig zum Begriff zu formen: der nie zu Ruhe kommende Stein.
   Aber ist es nicht so, dass uns gegenwärtig mehrere Steine in Bewegung halten? Mit Blick auf das letzte halbe Jahr fällt auf, wieviel Grossereignisse nacheinander weltweit und provinziell Schlagzeilen der Zeitungen fettleibig machten, sich zeitgleich wechselseitig  übertrumpften, auch wie sie miteinander um den Rang stritten. Sie schienen - der Schnee von gestern - erledigt zu sein und hörten dennoch nicht auf, das politische und ökonomische Geschehen weiterhin zu bestimmen.
   So verdrängte die Lächerlichkeit der Guttenbergschen Plagiatsaffaire die erst jetzt ins Blickfeld geratenen Folgen der von jenem adligen Ministerdarsteller schnurstracks liquidierten allgemeinen Wehrpflicht. Nicht nur für diese Leistung hatte ihn Journalistenfleiss hochgelobt; davon wird später die Rede sein. Doch kaum hatte die Kanzlerin dem Lügenbaron Glauben zu schenken versprochen, lösten Erdbeben und Flutwelle im fernen Japan eine atomare Katastrophe aus, die uns sogleich die längst verdrängten Reaktorruinen von Tschernobyl ins Gedächtnis riefen und Landtagswahlen zu Grossereignissen steigerte. Und während noch Fukushima, wie es im Journalistenjargon heisst, zum "Aufmacher" taugte, forderten Volksaufstände in Nordafrika von Tunesien und Ägypten über Libyen und Syrien Platzrecht auf auf erster Seite, indem die Auftritte eines Aussenministers den restlichen Anhängern seiner Partei zur Peinlichkeit missrieten. Und nun ist es die seit Jahren schwelende Griechenlandkrise, die alles was geschah, überdauert und, - was Fukushima befrifft - die Zukunftz belasten wird, mit Zwangsverordnungen und Europabeschwörungen übertönt.
   Und was es sonst noch gab und weiterhin geben wird: sich willkürlich überbietende Benzinpreise, Flüchtlingselend, fürstliche Hochzeiten, Fischer, die zu Piraten wurden und die in den Hintergrund geratene, wenngleich seit Jahren wirksame Klimaveränderung, die das Fortleben des Menschengeschlechts begründetem Zweifel aussetzt.
   Zusammengefasst lässt sich sagen, der Journalismus, um den es ja heute gehen soll, und der sich, - wenn ich das Motto dieser Tagung richtig verstehe - in Frage stellen will., lebt von der Hand in den Mund, zehrt von Sensationen und findet nicht die Zeit, die Hintergründe all dessen zu auszuleuchten, was uns in immer kürzeren Abständen in dauerhafte Krisen bringt.
   Aber ist der Journalismus oder - direkter gefragt - sind die Journalisten wirklich bereit, sich selbst kritisch zu befragen? Als Schriftsteller weiss ich ein Lied davon zu singen.  Mein Tun und Lassen ist ihrer permanenten Begutachtung ausgesetzt und war oft genug hordenmässiger Dreinrede, den Treibjagden des Kampagnenjournalismus preisgegeben. Ich bin derlei Rituale gewohnt und habe mehrere Schlachtfeste mit nur noch gelegentlich juckenden Narben überlebt. Vielleicht deshalb, weil wir Schriftsteller ohnehin kritisch miteinander umgehen, was Journalisten so gut wie nie tun. Allenfalls rümpft der Eine, der Andere empfindsam die Nase, wenn es aus den Spalten der Bild-Zeitung allzu penetrant stinkt.
   Immerhin gibt es Ausnahmen. Las ich doch vor ein paar Monaten in der Wochezeitung  Die Zeit den Versuch einer kritischen Selbstbetrachtung, wobei mir auffiel, dass es insbesondere Wirtschaftsjournalisten waren, die sich vorwarfen, vor der grossen Finanzkrise, obgleich sie voraussehbar war, nicht rechtzeitig gewarnt zu haben. Weil aber die hier versammelten Journalisten offenbar vorhaben, sich ganz im Sinne des berufenen "glücklichen Menschen" Sisyphos auf ihre einentliche Aufgabe zu konzentrieren und etliche liegengebliebene Steine zu wälzen, sehe ich mich eingeladen, einige Brocken von verschiedenen gewichtigem Umfang, die am Fusse des Berges ruhen oder auf halber Strecke bereits Moos angesetzt haben, beim Namen zu nennen.

Kürzlich war ich in Greifswald, der Geburtsstadt des Schriftstellers Wolfgang Koeppen. Im Verlauf mehrerer Veranstaltungen gab dessen Roman 'Das Treibhaus', der den deutschen Bundestag während der frühen fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts zum Gegenstand hat, Anlass und Zunder genug her, um die Interessenvertretungen in einer sich pluralistisch verstehenden Gesellschaft, sprich den Lobbyismus, kritisch ins Bewusstsein zu rücken. Es gibt ihn und seine Begehrlichkeiten, was allein die Bundesrepublik betrifft,
von Anbeginn. Von der Flick-Affäre über die Machenschaften des Spendenkanzlers Kohl bis hin zu den erpresserischen Tätigkeiten der Atomlobby, der Lobbyistenverbände der Pharmaindustrie, der Ärzte- und
Apothekerverbände und der Krankenkassen, die bis heutzutage eine sozial verträgliche Gesundheitsreform verhindern.


   Nicht zuletzt sind es die großmächtigen Banken, deren Lobbytätigkeit mittlerweile das gewählte Parlament mitsamt der Regierung in Geiselhaft genommen hat. Die Banken spielen Schicksal, unabwendbares. Sie führen ein Eigenleben. Ihre Vorstände und Großaktionäre formieren sich zu einer Parallelgesellschaft. Die Folgen ihrer auf Risiko setzenden Finanzwirtschaft haben schlussendlich die Bürger als Steuerzahler auszubaden. Wir bürgen für Banken, deren Milliardengräber allzeit hungrig nach mehr sind.



  Selbstverständlich sind auch die Tages- und Wochenzeitungen, also die Journalisten, dieser Allmacht ausgesetzt. Es bedarf keiner altmodischen Zensur mehr, die Vergabe oder Verweigerung von Anzeigen reicht aus, um die ohnehin in Existenznot geratenen Printmedien zu erpressen. Dennoch, was heißt, trotz unterschwelliger Schweigegebote, wird es notwendig sein, durch gründlichen, mithin an die Wurzel gehenden Journalismus die Öffentlichkeit über unlegitimierten Machtgebrauch der Lobby aufzuklären. Er gefährdet die Demokratie weit mehr als hysterisch heraufbeschworene Gefahren, die im Sarrazin-Stil Angst und Schrecken verbreiten. Er macht die Parlamentarier und die Regierung unglaubwürdig. Er trägt dazu bei, dass die Wahlenthaltung der Bürger zunimmt. Ihm müssen, da er nicht abzuschaffen ist, weil
Interessenvertretungen durchaus Berechtigung haben, strenge Grenzen gesetzt werden und sei es in Form einer Bannmeile um den Bundestag, auf dass das Heer der Lobbyisten in überschaubarer Distanz gehalten wird. Auch geht es nicht an, dass Politiker, unter ihnen hochrangige, kaum haben sie ihr Amt wie lästigen Krempel hingeworfen, in Konzernleitungen und Interessenverbänden fettdotierte Positionen besetzen. Man muss schon, wie ich es gerne tue, den Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen, um zu erfahren, dass ein Herr Markus Kerber, lange tätig im Bundesinnenministerium, dann im Finanzministerium, Anfang Juli dieses Jahres einer Berufung folgt, die ihn zum Hauptgeschäftsführer des
Bundesverbandes der Deutschen Industrie macht. Dort kommen nun, wie die FAZ lobend preisgab, seine internen Kenntnisse zugunsten dieses mächtigen Verbandes zur Wirkung. Dieser und ähnliche Positionswechsel bebildern einen Missstand erster Ordnung. Seit Jahren ist er üblich. Deshalb bedarf es - so meine ich - einer gesetzlich verordneten Karenzfrist von mindestens fünf Jahren; es sei denn, die Allgemeinheit und insbesondere die Journalisten finden sich damit ab, dass Politik per se käuflich ist und bleibt.

Ein weiteres Beispiel für unzulänglich aufgeklärte Öffentlichkeit ließ ich bereits zu Beginn meiner Rede anklingen. Es geht um die vom Tausendsassa Guttenberg im Handstreich erledigte allgemeine Wehrpflicht. Zwar lese ich zunehmend Berichte darüber, wie schwer es fällt, ausreichend viele Berufssoldaten und Freiwillige auf Zeit anzuwerben, zwar macht man sich Sorgen, welchen Eid zukünftig Söldner in welcher Form zu leisten haben, zwar wird der derzeitige Verteidigungsminister bedauert, weil er von seinem
Vorgänger einen einzigen Pfusch übernehmen musste, aber kaum jemand macht sich oder will sich bewusst machen, was es bedeutet, wenn wir uns vom 'Bürger in Uniform' verabschieden und zukünftig mit einer Bundeswehr zu tun haben, die, wie die Erfahrung lehrt, als Söldnerarmee alles Zeug dazu haben wird, einen Staat im Staate zu bilden.
Dieser Rückfall in Wallensteinsche Anwerbepraxis bahnt sich in Zeiten zunehmender Auslandseinsätze an, nahezu widerspruchslos und während - aberwitzig genug - unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt wird.

Angesichts dieses offensichtlichen Abgrundes sei mir ein Blick in die Vergangenheit erlaubt. Weil ich nun mal Altersringe genug angesetzt habe, kann ich mich gut an das Entstehen der Bundeswehr erinnern, an Konrad Adenauers Winkelzüge, an das Amt Blank, an meine Ablehnung der Wiederbewaffnung und an mein späteres politisches Bemühen als Bürger, ein wenig dazu beizutragen, dass das Konzept 'Bürger in Uniform' umgesetzt werden konnte, auch dass im Verlauf der Jahre gegen zähe Widerstände den Wehrdienstverweigerern als Ersatzdienstleistenden gesetzlich geregelte Anerkennung zuteil wurde. Doch zukünftig werden deren Sozialleistungen im Bereich der Alten- und Krankenpflege wegfallen. Welch ein nicht auszugleichender Verlust! Denn Söldner verweigern nicht. Es sei denn, ihr Sold wird gekürzt.
Diese Missgeburt, die als Reform verkauft werden soll, wird das Eigenverständnis der Bundesrepublik und der Bürger dieses Staates auf eine Weise verändern, die der Demokratie abträglich ist. Ich empfinde es als
skandalös, dass nicht nur die Regierungsparteien, sondern alle drei Oppositionsparteien, mithin auch die SPD, die von Fritz Erler über Helmut Schmidt und Georg Leber bis hin zu Peter Struck vorzügliche Politiker
in Sachen Verteidigungspolitik gestellt hat, nicht die Kraft haben, eine Alternative zu der jetzt schon sichtbaren Fehlentwicklung zur Diskussion zu stellen. Und gleichfalls versagen all jene Journalisten, die hinnehmen, was uns blaublütig eingebrockt wurde.

Nun drängt sich auf, weitere Beispiele zu nennen, die deutlich machen, was versäumt wird und was neben anderem Aufgabe der Journalisten bleibt: den Finger in die Wunde zu legen, solange sie noch offen ist. Ich spreche von den Folgen des überstürzten Vollzugs der deutschen Einheit nach ausschließlich westdeutschem Interesse und Maßstab. Mehr als zwanzig Jahre ist es her und hatte dem Eigenlob dienliche Feiern zur Folge. Wer aber hinsieht oder bereit ist, hinzusehen, kann erkennen, was damals schon voraussehbar war, nun jedoch in gesteigertem Maße Wirklichkeit ist: der Osten gehört dem Westen. Die soziale Abstufung der Bürger der ehemaligen DDR und ihrer Nachkommen zu Deutschen zweiter Klasse ist dergestalt Tatsache geworden, dass überwiegend junge Menschen ihre Gemeinden, Klein- und Großstädte verlassen und in den Westen ziehen. Einige Regionen beginnen sich zu entvölkern. Und oft genug sind es Rechtsradikale, die bleiben, sich als Horden einnisten und in den aufgegebenen Gebieten auf unüberhörbare Weise den Ton angeben. Nur wenig und wenn, dann nicht den Ursachen nachgehend, erfährt davon die Öffentlichkeit.

Dazu eine Ergänzung literarischer Art:
Als kürzlich wieder einmal der von mir Mitte der siebziger Jahre gestiftete Alfred-Döblin-Preis vergeben werden sollte, lasen im Literarischen Colloquium Berlin einige in die engere Wahl gekommene Autoren aus ihren Manuskripten. Zu ihnen gehörte eine junge Autorin, Judith Schalansky, die aus ihrem im Herbst dieses Jahres erscheinenden Roman 'Der Hals der Giraffe' las. Die Handlung spielt in einer mehr und mehr vom Wegzug ihrer Bürger geplagten vorpommerschen Kleinstadt. Eine Biologielehrerin von strengem Zuschnitt
unterrichtet ihre schwindende Schülerzahl nach Darwinischem Ausleseprinzip und in voller Kenntnis der Tatsache, dass es ihre Schule mangels Schülern in drei, vier Jahren nicht mehr geben wird. Zudem ergreift die Natur von aufgegebenen Brachflächen, zerfallenden Gebäuden, vom Umfeld Besitz. Auf Ödland sprießt und rankt es tausendfältig. Selten gewordene Pflanzen wuchern in Mehrzahl. Mit ihnen triumphieren längst vergessene Wörter. Lakonisch beschließt die Erzählerin diesen Sieg der Natur mit dem Hinweis auf einst versprochene 'blühende Landschaften'.

Nun kann man sagen, wie gut, dass es noch immer die Literatur gibt, füllen doch Schriftsteller ab und an Lücken aus, die all jene Journalisten lassen, deren Tintenfleiß nur dem rasch wechselnden Tagesgeschehen dienlich ist. Doch da gegenwärtig im Zusammenhang mit der anhaltenden Griechenlandkrise als Allheilmittel empfohlen wird, einer Treuhand griechischen Staatsbesitz anzuvertrauen und diesen nach den Regeln der Privatisierung zu versilbern, sollte auch Ihnen, die Sie als kritische Journalisten hier versammelt sind, ein Rückblick auf jene Treuhand erwägenswert sein, die vor zwanzig Jahren außerhalb parlamentarischer Kontrolle als halbkriminelles Unternehmen alles, was unter dem Besitztitel 'volkseigen' firmierte, zugunsten westlicher Schnäppchenjäger verscherbelt hat: mit Folgen bis heutzutage, die zu übersehen offenbar dem Konsens entspricht.
Ich weiß, die Flut der alltäglichen Nachrichten, verstärkt durch den Ausfluss des Internets, überfordert jeden, der informiert sein möchte. Schon bieten sich dem übersättigten Konsumenten virtuelle Fluchträume an. Und doch bleibt niemandem erspart, um die Zukunft der uns Deutschen durch Siegerwillen geschenkten Demokratie und der noch durch die Verfassung geschützten Freiheitsrechte besorgt zu sein.
Ich muss und will mich nicht auf Weimar als warnendes Beispiel berufen, die gegenwärtigen Ermüdungs und Zerfallserscheinungen im Gefüge unseres Staates bieten Anlass genug, ernsthaft daran zu zweifeln, ob unsere Verfassung noch garantiert was sie verspricht. Das Auseinanderdriften in eine Klassengesellschaft mit verarmender Mehrheit und sich absondernder reicher Oberschicht, der Schuldenberg, dessen Gipfel mittlerweile von einer Wolke aus Nullen verhüllt ist, die Unfähigkeit und dargestellte Ohnmacht freigewählter Parlamentarier gegenüber der geballten Macht der Interessenverbände und nicht zuletzt der Würgegriff der Banken machen aus meiner Sicht die Notwendigkeit vordringlich, etwas bislang Unaus- sprechliches zu tun, nämlich die Systemfrage zu stellen.
Keine Angst! Hier soll nicht die Revolution ausgerufen werden. Die fand, was Europa betrifft, zuletzt im zwanzigsten Jahrhundert statt und zwar im Plural mit bekannten Ergebnissen, zu denen als Folge Konterrevolutionen und Völkermord gehörten. Vielmehr geht es darum, aus der gesamten Gesellschaft heraus, wie es mittlerweile viele Bürger tun, fordernd Fragen zu stellen: Ist ein der Demokratie wie zwanghaft vorgeschriebenes kapitalistisches System, in dem sich die Finanzwirtschaft weitgehend von der realen Ökonomie gelöst hat, doch diese wiederholt durch hausgemachte Krisen gefährdet, noch zumutbar? Sollen uns weiterhin die Glaubensartikel Markt, Konsum und Profit als Religionsersatz tauglich sein?
Mir jedenfalls ist sicher, dass das kapitalistische System, befördert durch den Neoliberalismus und alternativlos, wie es sich darstellt, zu einer Kapitalvernichtungsmaschinerie verkommen ist und fern der einst erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft nur noch sich selbst genügt: ein Moloch, asozial und von keinem Gesetz wirksam gezügelt.
So stellt sich anschließend die Frage: Hat die von uns gewählte Staatsform, also die parlamentarische Demokratie, noch den Willen und auch die Kraft, diesen auf sie übergreifenden Zerfall abzuwenden? Oder wird weiterhin jeder Reformversuch, die Banken und deren Umgang mit Kapital unter Kontrolle zu bringen, - was heißen soll, sie gemeinnützig zu verpflichten - mit dem bislang gängigen Hinweis 'so etwas ist, wenn überhaupt, nur global zu lösen', in den Bereich der Unverbindlichkeit abgeschoben?
Eines scheint mir gewiss zu sein: Sollten sich die westlichen Demokratien als unfähig erweisen, den real drohenden und den voraussehbaren Gefahren mit grundlegenden Reformen zu begegnen, werden sie all dem nicht standhalten können, was in den kommenden Jahren unabweisbar sein wird: Krisen, die weitere Krisen hecken, der ungebremste Anstieg der Weltbevölkerung, die durch Wassermangel, Hunger und Verelendung ausgelösten Flüchtlingsströme und die von Menschen gemachte Klimaver - änderung. Ein Zerfall der demokratischen Ordnungen jedoch ließe - wofür es Beispiele genug gibt - ein Vakuum entstehen, von dem Kräfte Besitz ergreifen könnten, die zu beschreiben unsere Vorstellungskraft überfordert, so sehr wir gebrannte Kinder sind, gezeichnet von den immer noch spürbaren Folgen des Faschismus und Stalinismus.
Habe ich übertrieben? Wenn ja, dann nicht stark genug. Mit Hilfe nur weniger Beispiele sollten Blindstellen erkennbar gemacht werden. An denen mangelt es nicht. Zusätzlich böte sich an, über die Macht der Konzerne im Bereich der Presse, über die unsäglichen Quasselrunden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und über den gesellschaftsfähig gewordenen Opportunismus, wie er sich alltäglich druckfrisch verbreitet, zu klagen. Doch darüber wissen Sie, denen 'Ausgewogenheit der Berichterstattung' mehr oder weniger fordernd als Weichspüler empfohlen wird, Genaueres zu sagen.
Eher scheint es angebracht, noch einmal den Schutzpatron dieser Tagung herbeizuzitieren. Als ich jung war und mich während der ersten Nachkriegs- jahre in einer durch ideologischen Wahn zerstörten Umwelt zu orientieren versuchte, bot sich die französische Spielart des Existenzialismus an. Es war nahezu modisch, sich existenzialistisch zu geben und sich düster zu kleiden. Insbesondere war es der Streit zwischen Sartre und Camus, der über die Grenze schwappte und bis in die Ateliers der Düsseldorfer Kunstakademie, in der ich als Lehrling meinem ersten Beruf als Bildhauer nachging, für Diskussion sorgte, die entsprechend streitbar verlief. Dabei hinderte mangelnde Kenntnis nicht daran, lautstark leidenschaftlich zu werden. Ich habe mich erst später für Camus entschieden. Seine Sicht des Menschen in der Revolte, das heißt sein Plädoyer für den permanenten Widerspruch hat mich geprägt. Als etwa Mitte der fünfziger Jahre in deutscher Übersetzung der 'Mythos des Sisyphos' erschien, waren es seine Sätze, die mir den Weg wiesen.
Etwa die Definition des Glücks: 'Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss.' zudem die schöne Gewissheit: 'Die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden.'
Ich nehme an, dass diese Einsichten geeignet sind, auch Ihre journalistische Arbeit zu bestimmen. Wir haben nur diese Welt. Und da die Existenz des Menschengeschlechts auf dem blauen Planeten jüngeren Datums ist und deren Dauer von unserem Tun und Lassen abhängt, sind wir für dessen Zustand verantwortlich. Wir haben ihn weitgehend verunstaltet, treiben Raubbau und hinterlassen unseren Nachkommen eine nicht abzuweisende Erblast. Also gilt es, diese und andere Wahrheiten zu erkennen und zu benennen. Es gilt, Steine zu wälzen. Zu dieser lebenslänglichen Fron ermuntert uns Albert Camus.

Er sagt: 'Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.' “
 

Aus dem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juli 2001 abgeschrieben. Gemeinnützige Fleissarbeit- damit diese Rede nicht einfach verloren geht.








1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Jetzt melde ich mich mal von hier, vielleicht klappts dann doch noch. S.Schoener@gmx.de
Ich hoffe, du findest den link zu diesem Artikel, es wäre sehr wichtig. Obwohl ich Grass nicht ausstehen kann mit seiner stets wichtigtuerischen Attitüde , so glaube ich doch, dass er diese verwurschtelten medien aufdröseln kann.